Elvis in "Knaurs Jazzlexikon" von 1957

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  • Derek
    Gehört zum Inventar

    • 03.06.2007
    • 3188

    Elvis in "Knaurs Jazzlexikon" von 1957

    Ich höre gerade Ella Fitzgerald und da ereilte mich die Erinnerung an folgenden Artikel aus Graceland 126/1999, der hier mit freundlicher Genehmigung des Autoren erneut der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird ...
  • Derek
    Gehört zum Inventar

    • 03.06.2007
    • 3188

    #2
    Das Jazzlexikon.

    Vor kurzem stöberte ich in den Büchern meiner Eltern, und mein Auge blieb an dem Titel “Knaurs Jazzlexikon“ hängen. Obwohl ich kein ausgesprochener Freund des Jazz bin, nahm ich den Band zur Hand und warf einen Blick auf die ersten Seiten. Erschienen 1957. Jetzt war meine Neugier geweckt:

    Was mögen Jazzliebhaber über sich und ihre Musik gesagt haben zu einer Zeit, da Elvis Presley gerade die Musikwelt eroberte? Was war aus Sicht des Jazz über die neue Entwicklung in der populären Musik zu sagen? Wurde sie überhaupt wahrgenommen und eines Wortes gewürdigt? Wohl kaum!

    Ich schlug den Buchstaben “P“ auf: Es war nicht zu erwarten, dass Elvis Presley in einem Jazzlexikon erwähnt wird, schon gar nicht zu jenem frühen Zeitpunkt 1957. Seine zukünftige Bedeutung war damals keineswegs absehbar. Doch welche Überraschung! Ihm wurde tatsächlich schon ein kurzer Artikel gewidmet! Allerdings kein sehr freundlicher: Seine Musik habe nichts mit Jazz zu tun, und er verwende “aufs primitivste vereinfachte Elemente“ des Rhythm ’n’ Blues. Abfällige Worte!

    Ich fragte mich, ob aus dem Buch auch sachliche Gründe für dieses Urteil herauszufinden wären. Bei nächster Gelegenheit nahm ich mir viel Zeit für “Knaurs Jazzlexikon“ und tauchte ab in ein anderes Musikuniversum, vertiefte mich in ein längst vergangenes Jahrzehnt:

    Manche Artikel waren bis zum Jahr 1960 aktualisiert worden. Die Ausgabe, die mir vorlag, ging auch erst 1963 in Druck. Der Abschnitt über Elvis bezog sich allerdings nur auf die Zeit bis einschließlich 1956. Er wurde danach nicht mehr auf einen neueren Stand gebracht; stammt also noch von 1956/57.

    Wichtigster Autor des Lexikons war ein Dr. Alfons M. Dauer, seinerzeit offenbar eine Kapazität in Sachen Jazz. Studiert hatte er Musikwissenschaft, Völkerkunde, Afrikanistik und Anglistik. Entsprechend weit war der Horizont dieses Nachschlagewerkes gespannt:

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    • Derek
      Gehört zum Inventar

      • 03.06.2007
      • 3188

      #3
      Der Jazz und seine Nebensachen.

      Die Entwicklung des Jazz wurde aus seinen afrikanisch-folkloristischen Wurzeln bis hin zu den verschiedenen Strömungen im Jazz der 50er Jahre nachvollzogen.

      Dargestellt wurde Jazz als Prozess des Kulturaustausches zwischen schwarzer und weißer Musik in Nordamerika. Eine erste Form des Jazz, der “archaische Jazz“ entstand beispielsweise im letzten Jahrhundert, als schwarze Musiker Elemente weißer Blasmusik übernahmen. Der “mo*derne Jazz“ wiederum entstand aus der entgegengesetzten Bewegung: Weiße Musiker verleibten sich Elemente der schwarzen Musik ein.

      Berücksichtigt wurde, dass sich sowohl Blues als auch Rhythm ’n’ Blues parallel zum Jazz aus den gleichen afrikanisch-folkloristischen Wurzeln entwickelten. Gegenseitige Berührungspunkte wurden aufgezeigt. In diesem Zusammenhang fanden auch Blues- und Rhythm ’n’ Blues-Legenden wie Muddy Waters und Bo Diddley ihren Weg in das Jazzlexikon, obwohl sie mit dem Jazz fast nur noch den gemeinsamen Ursprung gemein hatten.


      Waren Blues und Rhythm ’n’ Blues für den Jazz also Nebensache, so war Elvis Presley darüber hinaus nurmehr eine Randerscheinung des Rhythm ’n’ Blues. Mit Jazz hatte seine Musik gar nichts mehr zu tun, aber auch die folkloristischen Elemente des Rhythm ’n’ Blues hatte er noch aufs primitivste vereinfacht. Ich erwähnte es bereits.

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      • Derek
        Gehört zum Inventar

        • 03.06.2007
        • 3188

        #4
        Wozu Elvis im Jazzlexikon?

        Man fragt sich: Warum wurde Elvis Presley dann überhaupt in einem Jazz-Lexikon erwähnt?

        Denkbar sind einerseits Vorgaben des Verlages, der das Lexikon möglichst “up to date“ anlegen und breit fächern wollte. Mit der Erwähnung Elvis Presleys griff das Lexikon eine Entwick*lung auf, von der bei Drucklegung we*der zu sagen war, wohin sie führen würde, noch wie sie sich in Zukunft zum Jazz verhalten würde. Elvis Presley würde heutzutage in keinem Jazzlexikon mehr auftauchen, weil man weiß, wie sich die Dinge weiterentwickelt haben: Mit ihm etablierte sich eine eigenständige Musikform neben dem Jazz, nämlich die Rockmusik, die in den dann folgenden 30 Jahren eine gewichtige Rolle spielte.

        Denkbar ist andererseits, dass am Beispiel Elvis Presleys aufgezeigt werden sollte, wo die Grenzen des Jazz und des guten Geschmacks endgültig verlassen wurden. Er wäre damit stellvertretend für den gesamten Boom des Rock ’n’ Roll in das Lexikon aufgenommen und abgeurteilt worden:

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        • Derek
          Gehört zum Inventar

          • 03.06.2007
          • 3188

          #5
          Erster Einwand: Ziel und Wirkung primitiv.

          Eingewendet wurde gegen Elvis Presley und seine Musik die “neurotische und massenhysterische Wirkung“, die gezielt und profitabel eingesetzt wurde. Diese Kritik wird verständlicher, wenn man den “sozialen Aspekt“ des Jazz berücksichtigt: Der Jazz begann einst als rein private Form der Musik. Es kamen Leute aus Freude am Musizieren zusammen, Leute, die sich darin selbst genügten. Ein Publikum gab es nicht. Später wandelte sich der Jazz zu einer Musikform, deren Anliegen es war, ein Publikum in Bewegung zu setzen, z. B. bei der tanzbaren Jazzvariante “Swing“. Laut den Autoren könne der Jazz dabei auch eine “Ekstasis“ hervorrufen; je*doch sei dies eine “beschwingende, erhebende Wirkung, die einer richtigen Ergriffen*heit entspricht.“ Dem Jazz wäre es demnach “an sich“ fremd, “neurotisch und massenhysterisch“ zu wirken. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Jazz und Rock ’n’ Roll läge also im jeweils an*gestrebten Ziel und der tatsächlichen Wirkung: “erhebende Ergriffenheit“ beim Jazz, “neurotische Massenhysterie“ beim Rock ’n’ Roll. Damit hatte der Rock ’n’ Roll in jeder Hinsicht die Grenzen des guten Geschmacks verlassen.

          Vermutlich deshalb erhielt Elvis Presley das Prädikat “primitiv“. Es bezeichnete nicht in erster Linie seine Musik, sondern worauf sie abzielte und was sie bewirkte.

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          • Derek
            Gehört zum Inventar

            • 03.06.2007
            • 3188

            #6
            Zweiter Einwand: Musikalisch primitiv.

            Zweifellos war der Rock ’n’ Roll auch musikalisch “primitiver“ als manche Form des Jazz. Jedoch waren die ursprünglichen Formen der schwarzen Musik, z. B. der Blues, ebensowenig anspruchsvoll. Im Jazzlexikon galten diese aber nicht als “primitiv“, sondern z. B. als “folklori*stisch“ – was viel netter klingt. Die schwarze Musik wurde durchweg besser beurteilt, (vermut*lich) weil sie originell, fremd und exotisch war und sich aufwärts entwickelt hat. Der Rock ’n’ Roll dagegen war, musikalisch gesehen, tatsächlich eine Vereinfachung und ein Rückschritt in der weißen Musik, die bis dato ja schon jede denkbare Höhe erklommen hatte.

            Vermutlich auch deshalb erhielt Elvis Presley das Prädikat “primitiv“. Es beklagte die fal*sche Richtung der musikalischen Entwicklung.

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            • Derek
              Gehört zum Inventar

              • 03.06.2007
              • 3188

              #7
              Körperbetonte Musik.

              Interessant fand ich, dass gegen Elvis Presley nicht eingewendet wurde, was Thema der öffentlichen Diskussion in den USA war: nämlich sein körperbetontes und damit unmoralisches Auftreten. Die Autoren waren sich nämlich bewusst, dass auch der Jazz – ähnlich wie der Rock ’n’ Roll – “enthemmend“ auf Körper und Geist wirke. Sie sahen darin auch “die eigentliche Problematik des Jazz für den ’weißen’ Menschen: (nämlich) den Einbruch einer Sphäre körperlich-vitaler Musik in den Bereich stark vergeistigter, emotioneller Musizierpraxis... “ Was die Körperlichkeit anbelangte, standen beide Musikrichtungen ausnahmsweise auf einer Seite.
              Zuletzt geändert von Derek; 28.07.2009, 23:06

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              • Derek
                Gehört zum Inventar

                • 03.06.2007
                • 3188

                #8
                Primitiv?

                Die Sichtweise der Dinge hat sich seitdem geändert.

                An der “neurotischen und massenhysterischen Wirkung“ der Back Street Boys oder eines Michael Jackson stört sich heute niemand mehr. Sie ist ein Stück Kultur geworden und ist nicht mehr Gegenstand öffentlicher Diskussionen. Zu Elvis Presleys Anfangszeit war das neu und vermutlich beängstigend – vor allem für Eltern.

                Wurde damals noch angeprangert, dass sich Elvis Presley musikalisch zurückentwickelte – so würde man heutzutage freundlicher urteilen: Back to the roots! Außerdem wurde damals verkannt, dass in Elvis Presley ebenfalls ein Kulturaustausch (wie beim Jazz) vollendet wurde: die Einverleibung schwarzen Rhythm ’n’ Blues in weiße, folkloristische Musik, z. B. Country. Das Ergebnis hieß: Rock ’n’ Roll!

                Und schließlich – sowohl der Jazz als auch der Rock ’n’ Roll arbeiteten letztlich an derselben Sache: einer zugeknöpften Gesellschaft aus den zu eng gewordenen Klamotten zu helfen. Der Jazz war in der Wahl seiner Mittel noch dezent, der Rock 'n' Roll dagegen massiv und direkt.

                All das mochte als “primitiv“ gelten. Doch haben gerade diese “primitiven“ Kräfte wesentlich dazu beigetragen, das Angesicht unserer westlichen Welt zu verändern – und das nicht zum Schlechten!

                Vielleicht noch dies zum Schluss: Es gibt Liveaufnahmen von Ella Fitzgerald aus dem Jahre 1958, in denen sie das Lied “I Can’t Give You Anything But Love“ singt. Sie nutzt die Gelegenheit, um Kollegen humorvoll zu imitieren: eine weibliche Sängerin, die ich nicht identifizieren kann, dann Louis Armstrong und schließlich Elvis Presley! Vielleicht ein Hinweis darauf, dass man seinerzeit die Dinge durchaus unterschiedlich bewertete: Knaurs Jazzlexikon weist Elvis Presley die Tür, Jazz-Queen Ella Fitzgerald dagegen hat scheinbar keine Vorbehalte, Elvis neben King-Louis Armstrong zu stellen.

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                • michael grasberger
                  Posting-Legende

                  • 16.02.2006
                  • 9991

                  #9
                  Zitat von Derek
                  Der Jazz begann einst als rein private Form der Musik. Es kamen Leute aus Freude am Musizieren zusammen, Leute, die sich darin selbst genügten. Ein Publikum gab es nicht.

                  wie kommt man auf sowas?
                  jazz wird ja hier quasi zur schwarzen, bürgerlichen hausmusik stilisiert. das ist völlig absurdes wunschdenken europäischer bildungsbürger. der frühe jazz aus new orleans (dixieland, ragtime usw.) war natürlich auch und vor allem tanzmusik und wurde genauso ins schmuddeleck gestellt wie später der rhythm & blues.
                  den verfassern des hier zitierten jazzlexikons scheint nicht bewusst gewesen zu sein, woher das wort "jazz" überhaupt kommt. es hieß ursprünglich nichts anderes als "ficken" und wurde später dann auf die musik jener bands übertragen, die in den puffs von new orleans zum tanz aufspielten.
                  der saubere jazz und der dreckige rock'n'roll...what a joke.

                  "We know that rock'n'roll was not a human invention, that it was the work of the Holy Ghost."
                  (Nick Tosches)

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                  • gast-20110818

                    #10
                    Zitat von Derek
                    Seine Musik habe nichts mit Jazz zu tun, und er verwende “aufs primitivste vereinfachte Elemente“ des Rhythm ’n’ Blues. Abfällige Worte!
                    Für mich sind das keine abfälligen Worte, weil's der Wahrheit entspricht - musiktheoretisch gesehen.

                    Kommentar

                    • Derek
                      Gehört zum Inventar

                      • 03.06.2007
                      • 3188

                      #11
                      Zitat von michael grasberger
                      jazz wird ja hier quasi zur schwarzen, bürgerlichen hausmusik stilisiert. das ist völlig absurdes wunschdenken europäischer bildungsbürger.
                      ...
                      der saubere jazz und der dreckige rock'n'roll...what a joke.
                      Wenn ich mich recht erinnere, wurde es damals tatsächlich so dargestellt. Deshalb war ich ja so überrascht, dass die Autoren nichts gegen Elvis' körperbetontes Auftreten sagten - vermutlich, weil sie vergleichbare Tendenzen beim Jazz feststellten. Zugleich rückten sie die "enthemmende" Wirkung und die daraus resultierende "Extasis" in die "erhebende" Ecke - das klingt tatsächlich nach dem Mathematikprofessor, der am Abend in seinem Musikcafé mit dem Fuß wippt

                      Die Darstellung des Jazz im damaligen Lexikon war noch nicht die volle Wahrheit, aber immerhin zwei Schritte vorwärts und nur einen zurück.

                      Zitat von michael grasberger
                      der frühe jazz aus new orleans (dixieland, ragtime usw.) war natürlich auch und vor allem tanzmusik und wurde genauso ins schmuddeleck gestellt wie später der rhythm & blues.
                      Wenn ich mich recht erinnere, setzte das Lexikon noch früher an als bei den frühen Jazzformen, nämlich zu einem Zeitpunkt, als es den Begriff Jazz noch gar nicht gab.

                      Dass der Jazz in der Schmuddelecke stand, solange er schwarz war, kann sich jeder denken. Breite Akzeptanz fand er ja wohl erst in seiner gebleichten und auf Mainstream gebügelten Swing-Variante (die ich trotzdem hübsch finde).

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                      • gast-20110321

                        #12
                        Zitat von Blues Boy
                        Für mich sind das keine abfälligen Worte, weil's der Wahrheit entspricht - musiktheoretisch gesehen.
                        musiktheoretisch gesehen,würde ich sagen "jazz" ist sch....ße und "R`n`R" ist musik.
                        für mich ist das reine geschmacksache,welche musikrichtung mehr für das geistigeauge vorraussetz
                        Zuletzt geändert von Gast; 29.07.2009, 20:57

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                        • gast-20110818

                          #13
                          Zitat von Marco
                          musiktheoretisch gesehen,würde ich sagen "jazz" ist sch....ße und "R`n`R" ist musik.
                          für mich ist das reine geschmacksache,welche musikrichtung mehr für das geistigeauge vorraussetz
                          Klar ist das alles Geschmackssache. Es hat ja auch niemand behauptet, dass der Rock'n'Roll scheiße und der Jazz für Hochgeistige ist. Nur, dass was Elvis am Anfang gemacht hat, war nun mal eine ziemlich vereinfachte Form vom Rythm'n'Blues und hatte mit Jazz nichts am Hut.

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                          • gast-20110321

                            #14
                            es ging ja auch um diese aussage: “aufs primitivste vereinfachte Elemente“!

                            und da kann ich nicht zustimmen,wenn man ein ohr für die sun-sachen hat!

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                            • gast-20110818

                              #15
                              Zitat von Derek
                              Dass der Jazz in der Schmuddelecke stand, solange er schwarz war, kann sich jeder denken. Breite Akzeptanz fand er ja wohl erst in seiner gebleichten und auf Mainstream gebügelten Swing-Variante (die ich trotzdem hübsch finde).
                              Nein, das würde ich so nicht sagen. Mir ist auch nicht bekannt, dass z. B. die Musik eines Louis Armstrongs irgendwann mal abgewertet wurde. Schon möglich, dass die weißere Variante, wie z.B. die Musik von Glenn Miller, als schicker galt, aber mit der Ablehnung und Abwertung des Rock'n'Roll ist das nicht zu vergleichen, denke ich. Das liegt wohl auch daran, dass der Rock'n'Roll ziemlich schnell hauptsächlich an das Teenager-Publikum verkauft und darauf zugeschnitten wurde.
                              Mit den Halbstarken kam diese Musik dann schnell in Verruf, obwohl das Teenage-Rebellentum ganz anderen Ursprungs war.

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