Wer, zur Hölle, hat denn mehr Sex?

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    • 03.06.2007
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    Wer, zur Hölle, hat denn mehr Sex?

    Jahrgang 1958
    Wer, zur Hölle, hat denn mehr Sex?
    Von Claudius Seidl

    08. Juni 2008 An diesem Samstag ist Prince Rogers Nelson, der Künstler, der früher mal bekannt war als der Künstler, der früher mal als Prince bekannt gewesen ist, fünfzig Jahre alt geworden. Ob er gefeiert hat; und wenn ja: so wie früher, also mit Drogen, Sex und hochgedrehten Verstärkern – darüber ist uns nichts bekannt; wir waren jedenfalls nicht eingeladen.

    Dabei hätte es so viel zu besprechen gegeben: nicht nur das eine oder andere unterschätzte und fast vergessene Album, „Come“ zum Beispiel aus dem Jahr 1994; oder die ultrahocherhitzte Platte „Controversy“, die, seit sie 1981 herauskam, kaum gealtert ist. Nein, man hätte mit dem Geburtstagskind auch gern über Haare gesprochen und warum sie ihm nicht ausfallen; über Sport, Ernährung, tägliche Meditation oder was sonst das Geheimnis seines jugendlichen Gesamtzustandes ist. Über die Zeugen Jehovas, zu denen er seit kurzem gehören soll. Und natürlich über Jean Améry, der in seinem großen, dunklen Essay „Über das Altern“ behauptet hat, mit fünfundvierzig fange alles schon an: das Alter, der Abstieg, der Selbstverlust.


    Der erste Star des Hip-Hops
    Wir sind auch nicht auf den Feiern von Sharon Stone, Paul Weller und Michelle Pfeiffer gewesen, bei denen es in diesem Frühjahr so weit war; die Einladung für den 16. August, wenn Madonna endlich fünfzig wird, ist noch nicht eingegangen. Und ob der Künstler, der früher unter dem Namen King of Pop bekannt war, ob Michael Jackson, der knapp zwei Wochen jünger ist, etwas zu feiern haben wird, das weiß er vermutlich selber nicht.

    Macht ja nichts, ganz verkehrt wird es schon nicht sein, wenn man dieses Phänomen, diese verrückte und verwirrende Koinzidenz, diesen Sternenhaufen im Universum der Biographien erst einmal einer nüchternen Betrachtung unterzieht: Wenn dieses Jahr zu Ende geht, werden nicht nur die drei größten Popstars der Achtziger ihren fünfzigsten Geburtstag hinter sich haben. Auch jene Schauspielerinnen, die unserem Bild von der modernen Frau die nötige Tiefe und im Glücksfall auch die Schärfe verliehen haben, auch Andie MacDowell und Holly Hunter, Jamie Lee Curtis und Madeleine Stowe, Ellen DeGeneres und Angela Bassett und, wie erwähnt, Michelle Pfeiffer und Sharon Stone sind 1958 geboren. Es ist der Jahrgang, dem auch Alec Baldwin und Kevin Bacon angehören, Gary Oldman und Viggo Mortensen, Tim Robbins und Michael Madsen. Und natürlich Grandmaster Flash, der erste Star des Hip-Hops, Ice-T, der Pionier des Gangsta-Raps.


    Testosteronbefeuerte Auftritte
    Martin Fry, der Sänger von ABC, wurde 1958 geboren, wie Jello Biafra, der mit den Dead Kennedys ganz Amerika erschreckte. Und so könnte man allein die Namen derer, die ihrer Jugend ein Gesicht und eine Stimme, einen Körper, einen Rhythmus und ein paar Melodien gaben (also nur mit den Schauspielern und Musikern und ganz ohne Michel Houellebecq) noch in eine ganze Zeitungsspalte tropfen lassen. Und käme doch zu keinem anderen Befund: Es scheint weniger etwas Besonderes an diesem Jahrgang zu sein, eher etwas Typisches (fast möchte man sagen: etwas Paradigmatisches). Unter den Jahrgängen scheint 1958 das zu sein, was Hip-Hop in der Popmusik ist, der Klimawandel unter den Naturkatastrophen oder Aids unter den Krankheiten. Irgendwann in den frühen Achtzigern waren sie fast alle da. Und seitdem weigern sie sich, abzutreten.

    Der kleine Mann, der sich jetzt wieder Prince nennt, war von allen der Schnellste. 1978 nahm er seine erste Platte auf, 1980 hatte er von seiner zweiten schon eine Million Exemplare verkauft. Und im Herbst 1981 spielte Prince in Los Angeles als Anheizer vor den Rolling Stones, wurde ausgebuht, ausgepfiffen und mit Müll beworfen – was man, im Nachhinein, nur angemessen finden kann. Dieser dunkle Sänger, der die wichtigsten Anregungen zu seinen Rhythmen und seinen Texten den verschiedenen Spielarten der körperlichen Liebe zu verdanken schien, dieser Mann, der zu seinen testosteronbefeuerten Auftritten aber gerne Tangas und Spitzenblusen trug, der verkörperte das Dementi auf alles, was Mick Jagger für Männlichkeit und Erotik hielt.


    Leben, Geist, Bewegung
    Prince schillerte so stark, dass Jagger blass daneben aussah. Prince spielte mit den Rollen, wo Jagger dauernd an seiner Jaggerhaftigkeit arbeiten musste. Prince schien eine Erfindung seiner selbst zu sein, wo Jagger nichts zu bieten hatte als die harte, halbnackte Wirklichkeit seiner selbst. Und die Wirklichkeit war damals, in den frühen Achtzigern, nicht besonders populär in den populären Künsten, was weniger an den Künsten und eher an der Wirklichkeit lag.

    Die Welt schien erschöpft zu sein von mehr als drei Jahrzehnten im sogenannten Kalten Krieg, die Weltvernichtungsdrohung stand im Raum und blieb doch, weil sie aufs tägliche Leben keine Wirkungen hatte, gewissermaßen abstrakt; in Washington regierte Ronald Reagan, in Moskau folgten dem greisen Breschnew erst der greise Andropow, dann der noch greisere Tschernenko; und dass sich mit dem vergleichsweise jugendlichen Gorbatschow etwas bewegen würde, diese Hoffnung kam erst auf, als das Jahrzehnt auf sein Ende zuging. Im Reich der Fiktionen war entschieden mehr Leben, Geist, Bewegung – und nicht nur Prince, der sich Anfang der Neunziger als „Symbol“ oder „The artist formerly known as Prince“ noch einmal neu erfand, spürte immer wieder den Drang, aus der Wirklichkeit auszuwandern.


    Schwindelerregend schnelles Spiel
    Die real existierende Person Madonna Louise Veronica Ciccone, die Frau hinter all den Masken, ein hübsches, aber nicht atemberaubendes Mädchen mit einer bezaubernden Lücke zwischen den Schneidezähnen wurde zum letzten Mal vermutlich ums Jahr 1982 herum gesehen, irgendwo in Downtown Manhattan, wo sie mit ihren Demobändern hausieren ging und sich vor nichts mehr fürchtete als vor der Aussicht, mit fünfundzwanzig immer noch dieselbe zu sein. 1983 war sie fünfundzwanzig, und nicht nur jeder Fünfundzwanzigjährige der westlichen Hemisphäre summte mit, wenn „Holiday“ aus den Lautsprecherboxen kam. Wie es weiterging, kann als bekannt vorausgesetzt werden und interessiert uns hier vor allem unter dem Aspekt, dass ihr schwindelerregend schnelles Spiel mit den Identitäten offenbar eine der Ursachen ist für die unverschämte Jugendlichkeit dieser Frau, die sich in ihrer ganzen Unverschämtheit vor ein paar Jahren offenbarte, als sie einfach auf die Bühne kam und jener Britney Spears, die ihre Tochter sein könnte, einen Zungenkuss gab, was als Machtdemonstration genauso gut funktionierte wie als Antwort auf die Frage, wer, zur Hölle, denn mehr Sex habe.

    Madonna war, wenn das Alter sich näherte, immer schon woanders, eine andere – und dass für ihren Altersgenossen Michael Jackson, der womöglich der begabteste Musiker und inspirierteste Selbstdarsteller seiner Generation war, dieses Spiel verlorenging, liegt wohl daran, dass es für ihn gar kein Spiel war, sondern Ernst. Das Echte und Authentische, das für die meisten so erledigt und abgehakt war wie eine Truppenparade auf dem Roten Platz oder das Grab Jim Morrisons auf dem Friedhof Père Lachaise, das waren für ihn ein brutaler Vater, eine zerrüttete Familie und, weil er, seit er acht Jahre alt war, mit den Jackson Five das Geld verdienen musste, ein striktes Verbot, jemals Kind zu sein. Dass sein Weg ins Fiktionale gesäumt war mit Verzweiflungen, angetrieben von einem existentiellen Ernst, das kann man in den Videoclips zu seinem Album „Thriller“ sehr anschaulich studieren. Das Glücksversprechen seines Jahrgangs, für immer (oder jedenfalls bis weit über den fünfzigsten Geburtstag hinaus) jung zu bleiben, diese Anmaßung, derer sich vor allem die Schauspielerinnen des Jahrgangs 1958, mal mit dem Charme von Michelle Pfeiffer, mal mit der aggressiven Entschlossenheit von Sharon Stone oder Andie MacDowell (macht sie immer noch Werbung für L’Oréal?) schuldig gemacht haben, die hat Michael Jackson als Aufforderung verstanden, sich in ein Wesen zu verwandeln, das nicht mehr ganz Mann, aber auch keine Frau ist. Eher ein monströses, zugleich bedauernswertes Kind, das aber trotz aller Exzentrik ganz gut taugt als Symbol der Epoche, die bis heute anzudauern scheint.


    Madonna und Mrs Stone - die beiden regierenden Blondinen
    Ja, Sharon Stone und Madonna haben ihre Sexualität so aggressiv inszeniert, wie es die Mütter des Feminismus sich kaum vorzustellen trauten. Und die jugendliche Männlichkeit von Viggo Mortensen oder Michael Madsen scheint auch das genaue Gegenteil von Michael Jacksons sexueller Indifferenz zu sein.
    Aber wenn man sich die alten Platten noch einmal anhört, die alten Clips und die Filme wiedersieht, wenn man sich noch einmal fragt, worin der Reiz lag und der Rhythmus, dann stellt man fest, dass sich zwar vieles bewegt hat, aber wenig nach vorn. Es kommt einem vor, als ob die Zeit, wie einst in der Kindheit, sich dehnte zu einer endlosen Gegenwart. Die ästhetischen Regeln haben – bis auf die Abschaffung der breiten Schultern und der Löckchenfrisuren – ihre Gültigkeit bewahrt, vierzehn Jahre nach „Basic Instinct“ spielte Sharon Stone in „Basic Instinct II“, 26 Jahre nach „Thriller“ geht einem „Billie Jean“ noch immer nicht aus dem Ohr, 46 Jahre nach Marilyn Monroes Tod präsentierten sich, vor drei Wochen in Cannes, Madonna und Mrs Stone als die beiden regierenden Blondinen.


    Unheilbar an Ironie erkrankt
    „Hope I die before I get old“, so hatte der Schlachtruf der vorangegangenen Generation geheißen, jener Leute, für welche die populäre Kultur das Gegenteil von Dauer bedeutet hatte, die Feier des Moments, das Zeitmaß einer Single, das kurze Glück, alt genug für den Sex und die Drogen und zu jung für ein gemäßigtes Leben zu sein. Und als der Moment vorüber war, lag Jim Morrison tot in der Badewanne, und Charles Manson war wegen Mordes für immer ins Staatsgefängnis Corcoran gesperrt.

    Und so ist es womöglich nicht nur eine gute Nachricht, wenn Madonna schon wieder eine neue Rolle spielt, Viggo Mortensen auch mit Bart unverschämt gut aussieht und der Soul von Prince ganz gegenwärtig klingt. Es ist, als übten sie noch. Es ist, als ob sie, unheilbar an Ironie erkrankt, den Ernst des Lebens immer wieder bis auf weiteres verschöben. Am Ende ist Michael Jackson, dessen Verwandlungen zumindest etwas Unwiderrufliches haben, der einzige Erwachsene.

    Ich hoffe, ich werde alt, bevor ich sterbe.
  • Derek
    Gehört zum Inventar

    • 03.06.2007
    • 3189

    #2
    Obiger Artikel stammt aus der heutigen FAZ.net und kann unter diesem Link abgerufen werden:





    Jahrgang 1958 - das scheint der Jahrgang zu sein, in dem Elvis Presley keine Rolle spielt. Schade eigentlich, denn in jeder anderen Retrospektive hätte man auf das Geburtsjahr zurückgeblickt und aus den entsprechenden Ereignissen ein Omen für die Zukunft gemacht.

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