Zitat:
Zitat von gast-20080904
Also, ich weiß beim besten Willen nicht, was es unter musikalischen wie unter produktionstechnischen Aspekten an 1971 eigentlich zu "meckern" gibt.
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Ich betone noch einmal, dass es mir beim Vergleich 1970-1971 (und darauf spitzt sich dieser Thread derzeit zu) nicht um besser/schlechter, sondern um das Anderssein geht. Im Grünen empfanden es einige User gar als Affront, das Jahr 1971 näher unter die Lupe zu nehmen, da sie, ich weiß nicht wieso, Schlechtmacherei befürchteten. Das liegt mir völlig fern.
Dein Posting bietet insgesamt aber einen guten Ansatz, um in die von mir erwähnte Detailarbeit einzusteigen. Wir haben ja bereits erkannt, dass man mit pauschalen "Ganzjahresurteilen" nicht weiter kommt.
Tatsächlich ist für mich bei der Klärung des Phänomens 1971 das Wie wichtiger als das Was. Du verweist völlig zu Recht darauf, dass das Thema Verlust im Jahre 1970 bereits in den Songtexten vertreten war. Ich schrieb aber,
"1971 weht ein neuer, wenn auch kein frischer Wind durch Elvis Songs: seine Stimme spricht von Einsamkeit, Enttäuschung und Zweifeln wie nie zuvor." Es geht mir in erster Linie um Elvis Interpretation des Themas, nicht um das Thema selbst. Hier sehe ich auch den entscheidenden Unterschied zwischen den Jahren 1970 und 1971, und das tust Du wohl auch, denn sonst würdest Du nicht schreiben:
"Soweit mich meine Erinnerung nach annähernd 25 Jahren, in denen ich exzessiv Elvis gehört habe, aber nicht täuscht, singt er 1971 nicht schlechter als 1970, sondern im Gegenteil eher (deutlich) besser." Ich würde das jetzt so nicht unterschreiben (Du hältst Dir ja auch ein rhetorisches Hintertürchen offen), aber wir sind uns einig, dass Elvis 1971
anders sang als 1970.
Fangen wir mal mit Deiner Liste an. Einige Titel hast Du ja wohlweislich in Klammern gesetzt, denn sie klingen, wie Du schreibst, einfach nicht traurig (und sind es vielleicht auch gar nicht, s.u.):
- Twenty days and twenty nights - Just pretend - Mary in the morning - I'll never know - Bridge over troubled water - Funny how time slips away - There goes my everything
Thematisch mögen diese Songs zwar alle mehr oder weniger mit Verlust zu tun haben (häufig sind es allerdings die "anderen", die verlassen wurden, zB
Twenty days and twenty nights, Just pretend, The sound of your cry), aber kommen Gefühle wie Verlassenheit, Enttäuschung oder Verzweiflung durch Elvis Interpretation zum Ausdruck? Eher im Gegenteil, zumal die meisten Songs auch Einsicht in falsches Handeln und Rückkehr ins Glück thematisieren (
Twenty days and twenty nights, Just pretend), oder Stärke und Zuverlässigkeit (
Bridge over troubled water) oder eine (bitter-)süßen Zustand der Zufriedenheit und Hingabe beschreiben (
Mary in the morning, I'll never know). In
Funny how time slips away ist der Verlassene längst über die Trennung hinweg. Seine Gefühle für die Ex sind von Zynismus und (möglicherweise) Rachegedanken geprägt, aber der lockere Ton, in dem diese Country-Ballade gesungen ist, macht es unmöglich, sich einen leidenden Menschen vorzustellen.
Make the world go away beschwört bessere Zeiten, aber auch hier fehlt emotionaler Tiefgang, und gleiches gilt für
There goes my everything. Interessant ist im letzten Fall auch, dass Elvis zur gleichen Melodie ein Jahr später
He is my everything singt, und den völlig anders gearteten Text (s. Dein Posting) nahezu identisch intoniert. Bei
You don't have to say you love me schließlich zeigt sich, wie Text und Elvis Interpretation nur schwer zueinander finden. Elvis interpretiert zB die Zeile "All that's left is loneliness, there's nothing left to feel" keinesfalls so, als wäre er (bzw das Lied-Ich) einsam bzw unfähig noch etwas (Positives) zu fühlen. Und
When I'm over you: erwähnte nicht sogar kürzlich jemand diesen Song als Kandidat für das traurigste Elvis-Lied. Tut mir leid, kann ich nicht verstehen. Wenn der Text auch einige Phrasen bietet, die von Dunkelheit, Tränen etc erzählen, so bleiben es doch eben Phrasen, denn der Song klingt in seiner flotten Darbietung nicht ansatzweise nach depressiven Gefühlen.
- I've Lost You - I really don't want to know - Tomorrow Never Comes
I've lost you signalisiert das Thema bereits im Titel. Hier nimmt der Verlust die Form des schleichenden Todes einer Beziehung. Von Trennung ist zwar nicht die Rede, die Beziehung "funktioniert" nach wie vor, aber Liebe und Leidenschaft haben sich irgendwann verflüchtigt. An sich eine traurige Kiste, die wohl jeder irgendwie auch nachvollziehen kann, aber hört man in Elvis Interpretation wirklich die Wehmut, die der Text suggeriert? Das satte, etwas süßliche Arrangement des Songs, bei dem viel zu dick aufgetragen wurde, trägt weiter dazu bei, dass die emotionale Wirkung oberflächlich bleibt. Zudem wird eine Dramatik aufgebaut, die die intime Reflektion zerstört. Elvis Gesang gefällt mir bei den vorliegenden Outtakes (#1 und #6) wegen der größeren Zurückhaltung auch besser, aber offensichtliche gefiel ihm selber der druckvolle Vortrag im Master Take (#7) besser.
Viel überzeugender wirkt da
I really don't want to know, wo Elvis bereits in den ersten Zeilen eine große Verletztlichkeit und nagende Zweifel in der Form von Eifersucht hörbar macht.
Tomorrow never comes ist voll von Fatalismus, der derart intensiv dargeboten wird, dass die Ausweglosigkeit (der wie-auch-immer gearteten) Situation fast greifbar wird.
Last, but not least möchte ich hier noch
Where did they go Lord hinzufügen. Elvis interpretierte diesen Song mit großer Hingabe. Es ist eines der wenigen Lieder (vier, eigentlich eher drei) des Jahres 1970, bei denen ich vergesse, dass Elvis ein Unterhaltungskünstler war, dem es gelang, Songs so emotional aufzufüllen, dass man glaubt, es seien seine eigenen Gefühle. Aus
Where did they go Lord aber treten Gefühle wie Wehmut, Verzweiflung und Verlust plastisch hervor. Allerdings bleibt anzumerken, dass dieser Song im September 1970 aufgenommen wurde, und da tickten die Uhren möglicherweise schon anders als im Februar, Juni, Juli oder Anfang August.
Ich schätze an dem Jahr 1970 die Vielseitigkeit, die Elvis an den Tag legte, aber emotionaler Tiefgang war in jenen Tagen nicht seine Stärke bei der Songinterpreation. In dieser Hinsicht schneidet er 1971 deutlich besser ab, und aus diesem Grunde formulierte ich auch die provokante These, dass Elvis 1970 an einem Gospelalbum gescheitert wäre. 1970 lief für ihn einfach alles zu gut, er war auf dem Gipfel, und in jenem Moment dort war für Gefühle wie Zweifel, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit (noch) kein Platz (und wohl auch keine Zeit).
Die o.a. Vorzüge des jahres 1971 werde ich in einem späteren Posting noch weiter ausführen, damit dieses hier nicht noch länger wird. Vielen Dank an alle, die bis hier durchgehalten haben.
Off-Topic:
Zitat:
Zitat von gast-20080904
Abgesehen davon, dass ich persönlich (inzwischen) vorsichtig wäre mit dem Wort "nie" ![Zwinkern](/images/smilies/wink2.gif) […]
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Es gibt aber einen Unterschied, ob man "nie zuvor" und "nie wieder" schrub©©®.